Juni 2024. Ich bereite mich auf den Gipfel des Aletschhorns vor. Als Mutter des Aletschgletschers, des größten Gletschers Europas, thront dieser titanische Berg allein im Herzen des ewigen Schnees. Ich habe schon so lange an die Überquerung des Aletschhorns gedacht. Aber heute ist die Zeit gekommen, in die Berner Alpen zu reisen, um diesen Traum endlich wahr werden zu lassen.
Überquerung des Aletschhorns: Auftakt einer Reise in die Berner Alpen
Alles beginnt vor mehreren Jahren mit einem Anruf von Vivian Bruchez. Er hatte gerade das Aletschhorn von West nach Ost durchquert und wollte seine Expedition mit einem meiner fotografischen Werke illustrieren. Beschwingt von seinem Abenteuer, erzählt er mir von der Pracht des Grats, der vom Sattelhorn zum Aletschhorn führt, von der Schönheit der Landschaft auf dem Gipfel und von der Magie dieser von allen verkannten Route. Ich denke mir, dass auch ich eines Tages diese Überschreitung machen werde.
Die Zeit vergeht, und als mein Bergführer Johann Filliez mich einlädt, ihn auf den Grat des Aletschhorns zu begleiten, fühle ich mich versetzt. Die Erinnerung an diese faszinierende und erhabene Route. Der Durst nach einer neuen Herausforderung. Ich schlage Johann vor, diese von Bergsteigern wenig begangene Route zu verfolgen. Und er nimmt mein Angebot mit Begeisterung an. Dieser Frühling hallt in uns nach wie die Hoffnung auf eine fabelhafte Reise.
Einige Tage später treffen wir uns mit Antoine Délitroz und Alexis Mangez in der Hollandia-Hütte auf 3238 m Höhe am Anungrat. Wir werden nicht mehr als zwei Seilschaften sein, um das Aletschhorn erfolgreich zu bezwingen. In dieser Jahreszeit ist die Hütte nicht bewacht. Der Berg beherbergt noch keine Menschen. Er atmet und regeneriert sich, eingekuschelt unter dem Schnee, bis die ersten warmen Tage zurückkehren. Wir dachten, wir seien allein im Hochgebirge, aber die Hütte ist voll. Trotzdem schaffen wir es, uns einen Platz für diese sehr kurze Nacht zu sichern. Nur wenige Stunden Schlaf und der Wecker klingelt um 2 Uhr morgens. Es wird eine lange Überquerung werden, und wenn man eine Chance haben will, sie erfolgreich abzuschließen, zählt jede Minute.
Überquerung des Aletschhorns: Von der Hollandia-Hütte zum Gipfel des Sattelhorns
Um 3 Uhr morgens verlassen wir die Hollandiahütte, um 15 Minuten später die Lötschenlücke zu erreichen. Das ist der Startschuss für unsere Überquerung. Das Ziel erscheint mir plötzlich sehr ehrgeizig. Ich habe mich noch nie mit der Nordseite eines über 4000 m hohen Gipfels auseinandergesetzt. Und diese Tour ist sehr wild, kaum begangen und kaum dokumentiert. Ich habe das seltsame und schwindelerregende Gefühl, in das Unbekannte einzutauchen. Meine Gedanken überschlagen sich und die Angst überkommt mich. Werde ich es schaffen? Werde ich es schaffen, mich noch einmal zu übertreffen? Im Hochgebirge ist nichts leicht für mich. Weder die Akklimatisierung an die Höhe, noch der Nahkampf mit dem Fels oder gar die Abfahrten mit den Skiern. Zum Glück weiß ich, dass ich auf Johann zählen kann, der mich unterstützt. Aber es ist nicht mehr die Zeit, um zu zögern. Ich atme tief durch und mache mich mit meinen Seilbrüdern auf den Weg in die tiefe Nacht.
Wir steigen in die Nordwand des Sattelhorns ein. Sofort stößt unser Eifer auf die Realität: Die Bedingungen sind miserabel. Am Himmel verhindern die unbeweglichen Wolken, dass der Schnee hart wird. Ohne Wiedergefrieren ist er schmelzend und viel zu dick. Unser Aufstieg verspricht gefährlich zu werden, aber Johann beweist wie immer seinen Mut. Er geht vor mir her, um die Spur zu legen. Mit jedem Schritt sinkt er tiefer und rührt den Schnee um. Die Arbeit ist anstrengend, aber er hält durch. Ich gehe hinter ihm her und sinke trotz seiner Bemühungen ebenfalls ein. Im Laufe unseres Aufstiegs wechseln wir uns von einer Seilschaft zur nächsten ab. Als Antoine die Spur zieht, stärken wir uns, bevor wir wieder an die Spitze gehen.
Mühsam bewegen wir uns vorwärts, die Entschlossenheit ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Als wir plötzlich einen Blick auf eine andere Seilschaft hinter uns werfen. Zwei Bergsteiger aus dem Kanton Bern, die wir am Vortag auf der Hollandia-Hütte getroffen hatten. Was für ein Glück! Ein wahres Zeichen der Vorsehung. Johann wird mir später anvertrauen, dass wir ohne ihre Hilfe wahrscheinlich nie das Aletschhorn erreicht hätten. Gemeinsam räumen wir den Weg frei. Gemeinsam kommen wir schneller voran. Um 5.30 Uhr morgens erreichen wir schließlich den Gipfel des Sattelhorns. Wie um uns zu ermutigen, unseren Weg fortzusetzen, löst das Licht der Morgendämmerung die Wolken auf. Blasse Rosen und Blau tanzen am Himmel wie das Versprechen einer göttlichen Odyssee.
Besteigung des Aletschhorns: Überquerung des Ostgrats
Kurz bevor wir den Gipfel des Sattelhorns erreichen, folgen wir seinem Ostgrat in Richtung Kleines Aletschhorn. Als der Nebel wieder über den Gipfeln hängt. Was nützt die ganze Anstrengung, wenn man nichts vom Panorama sieht? Was nützt die ganze Mühe, wenn sich die Alpen selbst im Nebel verbergen? Ich steige dort hinauf, um sie zu betrachten, um sie zu fotografieren. Um mich an ihrer Schönheit zu erfreuen, mich an ihrer Anmut zu nähren. Doch ein plötzliches Aufleuchten löscht meine Qualen aus. Die Sonne reißt plötzlich die Wolken auf und überflutet den Himmel mit ihren glühenden Strahlen. Ich fühle mich in die Anfänge der Welt zurückversetzt. Die Natur spielt vor unseren Augen das bezaubernde Präludium einer neuen Geschichte. Das ist der Grund für meine Liebe zu den Alpen. Das ist der Grund, warum ich jeden Tag gegen mich selbst kämpfe. Warum ich trotz aller Hindernisse beharrlich bleibe. Um diese Momente himmlischer Schönheit zu erleben. Um diese von den Menschen vergessenen Orte zu betreten, an denen das Licht aus dem Chaos der Winde entsteht.
Der Horizont enthüllt uns die nächste Etappe unserer Reise: den Gipfel des Aletschhorns, der mir noch so weit entfernt erscheint. In der Sonne fühle ich mich erfrischt. Aber die Morgenröte hat den Countdown gestartet. Wir müssen weitergehen, mithalten, bevor der Schnee wieder wärmer wird. Im Hochgebirge herrscht ein ständiges Wettrennen. Auf dem Grat, der vom Kleinen Aletschhorn zum Aletschhorn führt, bildet der Schnee eine 30 cm dicke Kruste. Jeder Schritt mobilisiert unsere ganze Energie und Aufmerksamkeit. Unsere Seilschaften wechseln sich beim Spuren ab. Windböen schlagen auf die Skier, die auf unserem Rücken befestigt sind, und drohen uns jeden Moment wegzuwehen. Dann, mit viel Ausdauer, erreichen wir endlich den Fuß des Aletschhorns. Ich schaue auf die Uhr: Es ist 7 Uhr morgens. Seit vier Stunden wandern wir nun schon über die schneebedeckten Felsen der Berner Gipfel.
Besteigung des Aletschhorns: Auf 4194 m in den Berner Alpen
500 m Höhenunterschied trennen uns nun vom höchsten Punkt des Aletschhorns. Diese letzte Gerade ist die steilste. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Aber der Schnee ist gut und ich fühle mich ruhig. 100 m vor dem Gipfel legen wir unsere Skier ab und trotzen dem Fels. Ein letzter gemischter Lauf, bei dem Schnee immer wieder auf Granit folgt. Um 9.47 Uhr erreichen wir endlich den Gipfel des Aletschhorns. 6,5 Stunden einer anstrengenden Reise, die uns auf eine Höhe von 4194 m geführt hat. Was für ein Glück, dort oben angekommen zu sein! Ich sehe die Blicke meiner Seilgefährten und der Berner Freunde, die uns so sehr geholfen haben. Gemeinsam haben wir es geschafft.
Um uns herum erstrecken sich die Berge, so weit das Auge reicht. Vom Wallis bis zum Mont Blanc grüßen uns die Alpen. Als ich mich umdrehe, stehe ich vor den Fiescherhörnern, dem Großen Grünhorn und dem Finsteraarhorn, die Johann und ich nur wenige Wochen vor dieser Besteigung bestiegen haben. Der Anblick ist grandios, ich habe Tränen in den Augen. Was für ein Privileg, dort oben zu stehen! Mit einem wissenden Lächeln stärken wir uns. Ich esse einen Energieriegel und trinke etwas Wasser. Dann müssen wir den Gipfel des Riesen schon wieder verlassen.
Überquerung des Aletschhorns: Abstieg über den Mittelaletschgletscher
Wir steigen den Grat wieder hinunter, um unsere Ausrüstung zu holen. Wir ziehen unsere Felle ab und schnallen unsere Skier an. Dann machen wir uns auf den Weg entlang des Ostgrats des Aletschhorns. Der Schnee ist recht angenehm zu fahren, aber die wütenden Winde versuchen mehrmals, mich umzuwerfen. Bei Punkt 3713 müssen wir auf die Südseite des Berges abbiegen, um den Mittelaletschgletscher zu erreichen. Aber der Hang ist steil und mein Gleichgewicht ist unter den Sturmböen gefährdet. Ich beobachte meine Freunde, wie sie flink über den Schnee surfen. Mein Herz will unbedingt zu ihnen, aber mein Körper bleibt seltsam starr. Ich kann meine Skier nicht mehr gleiten lassen. Um meine Angst zu überwinden, beschließe ich, eine Treppe hinunterzufahren. Und Johann organisiert seinerseits eine Abseilstelle, um mir zu helfen. Was wäre ich ohne ihn? Ich kann es kaum erwarten, auf dem schönen Teppichboden des Mittelaletschgletschers zu fahren.
Auf dem Gletscher gleite ich dahin und lasse alle Schwierigkeiten hinter mir. Trunken vor Freude danke ich den Alpen dafür, dass sie mir so viel Nervenkitzel bieten. Doch diese glückliche Pause ist nur von kurzer Dauer. Es ist bereits Mittag und unter meinen Skiern wird der Schnee immer schwerer und tiefer. Die vielen Gletscherspalten und Seracs um uns herum behindern unser Vorankommen erheblich. Diese Überquerung hält viele Überraschungen für uns bereit.
Aletschhornüberquerung: Vom Aletschgletscher zur Station Fiescheralp
Auf 2700 m Höhe liegt die Gefahr endlich hinter uns. Der Abstieg über den Gletscher wird weniger riskant. An der Einmündung des Mittelaletschgletschers wartet der Aletschgletscher auf uns. Doch zu unserem Erstaunen stellen wir fest, dass es an der Kreuzung der beiden Gletscher keinen Schnee mehr gibt. Wir müssen unsere Skier abschnallen und unsere Expedition zu Fuß fortsetzen.
Nach einer halben Stunde landen unsere Schritte endlich auf einem Schneeband. Wir beginnen nun unseren Aufstieg vom Aletschgletscher zum Tälligrat-Tunnel. Drei Stunden lang wandern wir durch ein Labyrinth aus Eis und Schnee. Wir wandern durch eine abstrakte Landschaft, die einem wundersamen Traum entsprungen zu sein scheint. Ich vergesse die Zeit, als die Realität uns plötzlich wieder einholt. Wir erreichen den Tälligrat-Tunnel um 15:45 Uhr und die letzte Seilbahn fährt um 17:00 Uhr. Wenn wir zu spät kommen, müssen wir den Abstieg zu Fuß fortsetzen. Erschöpft von unserem Tag ist das das Letzte, was wir wollen!
Wir haben keine Minute zu verlieren. Wir schnallen ein letztes Mal unsere Skier ab und gehen schnellen Schrittes durch den Tunnel, der unter dem Eggishorn verläuft. Die letzten Meter rücken näher und die Zeit drängt. Also rennen wir, was das Zeug hält, bis zur Fiescheralp-Station. 17 Uhr schlägt es, als wir gerade noch in den Kipper springen, der zum Bahnhof Fiesch hinunterfährt. Endlich können wir verschnaufen.
Vom ersten Licht bis zum Einbruch der Dunkelheit war dieser Tag auf dem Aletschhorn unglaublich. Er wird mir für immer als einer meiner schönsten Alpenläufe in Erinnerung bleiben. Denn die Zeit wischt die Schwierigkeiten weg. Die Schmerzen verblassen, die Ängste schwinden. Und man behält nur die Augenblicke der Gnade in sich. Der Geschmack des Sieges, die Brüderlichkeit, die Kraft der Berge und die Pracht der Alpen. Heute habe ich meinen 51. Gipfel über 4000 m von insgesamt 82 in den Alpen bestiegen. Das Abenteuer geht weiter, immer berauschender.